In perfekt sitzender Uniform, die Hakenkreuzbinde frisch aufgebügelt, stehe ich in einer langen Schlange in einer amerikanischen Behörde, um einen Antrag auf einen total war zu stellen, doch nach stundenlangem Schlangestehen teilt mir der freundliche Sachbearbeiter mit, dass das application form for foreign aggressions im Saal nebenan zu erbitten sei. Da ich ein depressiver Faschist bin, lasse ich trotz meiner feschen braunen Uniform den Kopf immer recht schnell hängen und beschließe daher, für heute Schluss und lieber erst morgen den nächsten Versuch zu machen. Am nächsten Morgen stehe ich so auch tatsächlich wacker in der richtigen Schlange, habe dann aber nicht alle Papiere zusammen, um ordnungsgemäß einen total war zu beantragen. Neben der Geburtsurkunde (Original, keine Kopie!) fehlen mir zwei weitere Empfehlungsschreiben amerikanischer Staatsbürger. Man braucht fünf. Aber – ich dachte, drei… Nein, fünf insgesamt! Lächelnd hebt die Sachbearbeiterin ihre rechte Hand, die Finger anschaulich gespreizt. Wo ich doch aber schon für diese drei so lang rumgerannt bin.
Wieder zuhause mag ich mit hängenden Schultern auf dem Bett sitzend trefflich räsonieren über das Scheitern des Bösen an der seelenlosen Bürokratie. Und darüber dass, wie Benjamin sagt, alle Hoffnung in der Korruption liegt. Denk an den Schlossbeamten Bürgel, der, in der Nacht von dir überrascht, zumindest tut er so, der falsche, nicht zuständige und also genau richtige Ansprechpartner für dein Anliegen ist oder zumindest wäre, wenn du jetzt im Gespräch mit ihm nicht vom Schlaf übermannt würdest, wobei du ehrlicherweise einräumen musst, dass du gar nicht übermannt wirst, sondern dich willentlich willenlos einfach nicht mehr wachhältst, sondern lieber groteskes Zeug träumst, auf dass es auch diesmal nicht klappt mit deiner Sache, denn merke: The lost cause is the only one worth fighting for. Wobei das hier ja nun der umgekehrte Fall, die umgekehrte Logik wäre: dass in der Hoffnung alle Korruption liegt.
Aber sei’s drum, noch ist eben Hoffnung. Weil es doch einen guten Menschen bei der Behörde geben muss, der mir helfen wird, es kann gar nicht anders sein, denn We shall never surrender, bis zum letzten Mann werden wir kämpfen, und der bin nun mal ich, der erste, einzige und letzte, Dreifaltigkeit meiner Zwirnspulenexistenz, dreimal falte das Mädchen, so und so und so, schon hat sich alles zu einem unbesiegbaren Wesen verfitzt, krumm und schief lehnt es an der Dachbodenwand: the last man standing. Also steh wieder auf, das Sterben verschieb erneut auf morgen. Die Uniform flüchtig glattgestrichen und schon die Treppen herabgestürzt, eckige Kreisbewegungen von Stufe zu Stufe, das Taxi herbeigepfiffen, und schon stehe ich wieder in meiner Behörde, doch siehe da, auch diesmal hat man sich gegen mich verschworen, der Saal für die Beantragung von foreign aggressions ist so überfüllt, dass man die Bearbeiter gar nicht mehr sehen kann, nicht einmal eine Schlange lässt sich in der tumultuösen Menge der Aggressoren ausmachen. Dagegen ist der für mich falsche Saal, in dem ich all die Jahre vergeblich stand, nun vollkommen leer, gelangweilt blättert der Sachbearbeiter in einem Magazin. Das ist meine Chance, das ist mein Mann, ich erkenne ihn an seinen schauspielerisch schläfrigen Lidern.
Alles, was ich habe, lege ich ihm auf den Tisch und verlange mit fester Stimme, hier, bei ihm, meinen Antrag auf einen total war zu stellen, argumentiere tapfer, dass ich doch schon lange nicht mehr foreign sei, eher interior oder zumindest rather familiar. Er nickt verständnisvoll, pocht dann aber auf meine Identitätskarte und sagt, technically leider nicht und hier herrsche nun mal kein Gewohnheitsrecht. Kaum öffne ich den Mund zum Widerspruch, sagt er mitleidig leise: »Komm, geh nach Hause, Odra.« Weil ich mich nicht von der Stelle rühre, legt er seufzend sein Magazin, in dem er die ganze Zeit weiter geblättert hatte, zur Seite:
»Schau, die Uniform allein macht aus dir auch noch keinen bösen Menschen, das hast du noch immer nicht vollumfänglich begriffen. Und das ist ja auch so schwer zu begreifen. Weil man mit der Banalität des Bösen nicht weiterkommt, ebenso wenig wie mit dem Bösen des Bösen, beziehungsweise kommt man mit beidem immer zu weit, die Blickrichtung, die man mit beidem einnimmt, lässt einem alles in allzu klarem Licht erscheinen und so sieht man am Ende nichts mehr. Zumindest weiß man nicht mehr wohin mit den sperrigen Details, wo soll man das alles verstauen im Kopf? Zumal in einem Kopf wie dem deinen, nicht wahr? Also gib endlich Frieden und geh nach Haus. Du schadest doch offenbar niemandem.«
Was bleibt mir nach dieser ausdrücklichen Zurückweisung, als endgültig den Rückzug anzutreten? Gestern bin ich zum siebenunddreißigsten Mal dreizehn Jahre alt geworden, nun sind meine Kräfte wirklich am Ende. Um Mitternacht habe ich auf die Uhr gestarrt, der Jahreszeiger hat einen Satz nach vorn gemacht, doch kaum setzte ich zum Aufatmen an, ist er wieder in seine alte Kerbe zurückgesprungen, er zitterte noch einmal leicht, dann stand er wieder still, und welchen Erfahrungsschatz ich auch im Laufe dieser siebenunddreißig Jahre angesammelt haben mag, es bleibt dabei, dass ein dreizehnjähriges Kind schlecht allein in die Schlacht ziehen kann.
Die Schultern jämmerlich hängend in meiner schönen Nazi-Kinder-Uniform, sitze ich also wieder, noch immer auf dem Bett und erkenne bitter, dass ich nun wirklich am Ende bin. Nicht bloß wie jeden Tag um diese Zeit. Sondern wirklich. Ganz am Ende. Machen wir also Schluss.
Du legst dich hin zum Sterben. Dann passiert aber nichts weiter, und so wird das auch erst mal bleiben. Das merkst du gleich, kaum dass du das verstöpselte Ohr einigermaßen richtig in der Kissenkuhle gebettet hast. Du musst länger liegen bleiben als jemals zuvor. Länger und auch ganz anders. Darfst dich nicht mehr hin und her wälzen, von nun an bist du nicht mehr schlicht schlaflos, nicht mehr verzweifelt, du bist auf einem ganz anderen Level, du bist wo ganz anders, ganz woanders, das musst du deinem Körper klarmachen. Und sobald er das einigermaßen begriffen hat, heißt es für euch beide bloß noch warten. Vertreibt euch doch die Zeit mit einem kleinen Memoire:
Depression – Who I really am
I. The early years
Ehe ihr euch verseht, sind weit über dreißig, bald vierzig Jahre ins Land gezogen. Ihr könnt euch in alle Richtungen noch mal umschauen in diesem Land, das all diese Jahre in sich hineingesogen hat. Ich möchte aber nicht zurückschauen. Das musst du auch nicht. Weil die Angst aus dem Blick gefallen ist, steht dir nichts mehr im Wege, weisen alle Richtungen auf einmal nach vorn. Also, was ist, was siehst du da, wenn du an einem beliebigen Punkt die Augen aufschlägst? Vielleicht…. einen Sonnenaufgang? Nein, schau genauer hin, woher kommt das Licht? Denn hier beginnt deine Geschichte. Sie ist sehr kurz und schnell erzählt.
Deine Geschichte beginnt mit einem Tunnel. In einem Tunnel. Mit einem Channeling. Es ist nicht direkt ein Tunnel, eher ein langer Flur, nächtlich dunkel, doch von irgendwo kommt freilich ein Lichtlein her, ein ganz unwahrscheinlich fluoreszierendes Licht dringt aus den Türritzen des Raums an seinem Ende, wie das Licht, das in der vorletzten Szene von Die Teuflischen oder jedem beliebigen anderen Thriller aus dem Raum am Ende des Flurs dringt. Nichts Böses und nichts Gutes erwarten mich in dieser leuchtenden Kammer – nur das Ende des Flurs. Und das ist schon einiges.
Wie in jedem Channeling ist auch mein dunkler Flur keine Einbahnstraße, braucht es doch ein Backchanneling, damit das Medium sprechen kann, zwei Kanäle, damit der Geist erscheint, zwei Urbilder – ein Widerspruch, der aber nicht das Ende der Geschichte wäre, sondern sie erst Fahrt aufnehmen lässt, was ich sagen oder eigentlich fragen will ist: Wo habe ich die Scho-ka-kola-Dose zum ersten Mal gesehen, ihre Magie erkannt? In Rosen für den Staatsanwalt oder an der Tankstelle, auf einer der langen Autofahrten, dem Mann vor mir ans Herz gelegt, halte durch, Wehrmachtssoldat oder bundesrepublikanischer Autofahrer, die Frau auf dem Beifahrersitz, die Kinder hinten, in jedem Fall: Scho-ka-kola für den Feind. Wovon ich freilich nichts wusste, nur sah, dass diese Dose schön und böse ist, eine runde Sache. Und natürlich habe ich sie an beiden Orten, im Film und an der Tankstelle, keiner unwirklicher als der andere, zum ersten Mal gesehen. Hätte ich sie nicht an beiden Orten zugleich zum ersten Mal gesehen, ich hätte sie gar nicht gesehen.
Vom Süßigkeitenregal unter der Tankstellenkasse war die Dose ins Handschuhfach gewandert, an diesen an sich schon magischen Ort. Alle Dinge dort drinnen, Sonnenbrillen, Stadtpläne, Zigaretten und eben Scho-ka-kola-Dosen sind, Finger weg!, für dich verboten, ohne aber deswegen Tabu zu sein, werden sie doch von den Erwachsenen die ganze Zeit rausgeholt und wieder reingestopft, zur beiläufigen Zurschaustellung ihres Umgehenkönnens mit den Dingen, welche folglich nur dazu da sind, aus dem eigentlich erbärmlichen Erwachsensein eine rätselhafte Könnerschaft zu machen, und bloß wegen ihres peinlichen in der Welt Seins müssen die Erwachsenen den Geister-Kindern hin und wieder erlauben, ihnen was aus dem Handschuhfach zu holen, ein gutgelaunter Befehl, ausnahmsweise Auszeichnung, wo man schon mal, wenn auch nicht recht rechtens, auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat, und somit einen Schritt weiter gekommen ist auf dem Weg in die Lächerlichkeit, also gib mir mal bitte… Aber prinzipiell, selbst wenn die Ausnahme mit den Jahren allmählich zur Regel wird, gilt natürlich: Finger weg! Denn man kann durchaus zum Tode verurteilt werden, wenn man eine solche Dose aus dem Handschuhfach oder einem Laden stiehlt, genau genommen waren es zwei Dosen. Was das Urteil noch einleuchtender macht, weil noch pedantischer, also nazi-gerecht: Für eine Dose gehängt zu werden, wäre etwas übertrieben, um nicht zu sagen drakonisch, aber zwei zu stehlen, das ist dann schon klarerweise wehrzersetzend, so kurz vor der Niederlage, pardon, dem Endsieg, also Strang. Zwei Dosen, die der Gefreite Kleinschmidt ja noch nicht einmal wirklich gestohlen hat, sondern auf dem Schwarzmarkt erworben, was aber ehrlicherweise in manchen Zeiten noch böser ist als stehlen, weil wehrkraftzersetzend Doch zum Glück geht alles gut aus für den Gefreiten Kleinschmidt, wenn auch nicht, weil ein guter Mensch ihm hilft, sondern eher zufälligerweise.
Wo dieses Zufälligerweise herkommt, ist schwer zu sagen, ist es doch etwas anderes als der Zufall, der, so klein und unbedeutend er sich gibt, am Ende doch immer eine große Sache aus sich machen lässt. Weil er immer vorgibt, aus einer und nur einer ganz bestimmten Richtung zu kommen. Wohingegen das Zufälligerweise, das wirklich klein bleibt und nicht bloß so tut, aus vielen verschiedenen Richtungen zugleich herbeigelaufen kommt.
Von woher überall es an diesem Tag kam, lässt sich also naturgemäß nicht klären. Jedenfalls aber war Odra ebenso zufälligerweise, wie alles für den Gefreiten Kleinschmidt noch mal gut ausgeht, ein paar Jahre nach ihrer ersten Begegnung mit der Scho-ka-kola-Dose an einer der Tankstellen unbemerkt aus dem Auto gekullert und folglich nach dem Tanken dort vergessen worden. Normalerweise sieht man in dieser Sequenz dann als nächstes das Auto, es wird laut oder zumindest eifrig durcheinander geredet, bis plötzlich der Vater oder die Mutter in den Rückspiegel starrt und sagt: »Wo ist …?« Nächstes Bild, das Auto fährt zurück zur Tankstelle, im Rückwärtsgang an die Tanksäule, bis haargenau an die Stelle heran, von der das Kind sich nicht vom Fleck gerührt hat, und wenn es auch nicht direkt unter Schock zu stehen scheint, so trägt sein Gesicht doch diese seltsame Verbindung aus Schuldgefühl und Vorwurf zur Schau: Ihr habt mich doch noch abgetrieben. Nicht etwa damals, als es völlig in Ordnung gewesen wär, weil ich ja damals noch nicht ich war, sondern jetzt, wo ich ich, weil ich ich bin, beziehungsweise war. Ich verspreche, ich werde es nicht mehr sein, wirklich nicht.
Aber so ist es hier nicht gewesen. Denn Odra hatte sich vom Fleck gerührt. War, kaum dass das elterliche Auto von der Tanksäule weggelitten war, blitzschnell in ein anderes Auto geschlüpft. Sie wusste also nicht, wie lange die Ihrigen gebraucht haben mochten, um ihr Verschwinden zu bemerken und schleunigst oder vielleicht auch nicht ganz so schleunig umzukehren. Und so gab es Anlass weder für Vorwürfe noch für Schuldgefühle. Denn im Vollbewusstsein oder zumindest Vollbesitz kindlicher Autorität hatte sie sich zufälligerweise in diesem Moment an der Tanksäule lediglich gesagt: Hier fahre ich nicht länger mit. Lieber war sie in ein fremdes Auto gestiegen.
Ganz am Schluss ist dem Gefreiten Kleinschmidt, der längst kein Gefreiter mehr war, sondern ein vogelfreier Kleinhändler, in Gestalt einer Frau im Rückspiegel all das zukünftige Glück hinterhergerannt, das einem auch bloß die korrupte Geschichte bereiten kann. Da ist Kleinschmidt doch ausgestiegen, hat den Kumpel im Laster allein in die nächste Stadt weiterziehen lassen, wir aber fahren mit diesem Kumpel weiter und sehen im Rückspiegel das Glück. Das zukünftige Glück liegt im Rückspiegel. Das hat auch Odra gleich begriffen, sobald sie auf dem Beifahrersitz neben ihren neuen Hausvater saß, der ihre Frage, ob er sie ein Stückchen mitnehmen könne, gar nicht recht zu hören, aber gegen ihre Anwesenheit auch keine Einwände zu haben schien.
Seit fast vierzig Jahren scheint er keine Einwände zu haben gegen diese Anwesenheit eines zwar kleinen, aber dennoch nicht unbeträchtlichen Störfaktors in seinem Haus. Nur über ihren unermüdlichen Kampf um ihre Identität wirkt er mitunter etwas betrübt, vielleicht aber verbirgt sich hinter dieser Betrübnis nichts anderes als heimlicher Stolz. Morgen werde ich es noch mal versuchen. Irgendwann müssen sie einknicken, und genau dann werde ich da sein.
lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Essen. 2016 erhielt sie den Kunstpreis Literatur der Akademie der Künste, Berlin.